Doderer einmal anders im Klingenberg Verlag
Buchkritik: Rudolph J. Wojta: Zerfall der Lage
Text: Lydia Bißmann - 20.01.2025
Der Kulturjournalist und Autor (Operation Fledermaus) Rudolph J. Wojta hat mit Zerfall der Lage einen kleinen Roman vorgelegt, der sich behutsam, aber eindringlich einer Geschichte annimmt, die so gewesen sein könnte, aber nicht muss.
Wie sein Erstlingsroman spielt auch dieser hier in Wien Anfang der 1930er-Jahre. Anhand der Tagebücher des umstrittenen Liebkinds der österreichischen Nachkriegsliteratur, Heimito von Doderer, erzählt Rudolph J. Wojta eine Episode aus dem Leben eines nicht mehr ganz so jungen Mannes, der sich vornimmt, einen großen Roman zu verfassen.
Klingenberg Verlag
Rich Kid mit großen Plänen
Der Protagonist, ein Sohn aus gutem Hause, der mit der dementsprechenden Nachlässigkeit und finanziellen Möglichkeit aufgezogen wird, bezieht ein kleines Zimmer in einem Zinshaus, um sich vollends seiner Schriftstellerei zu widmen. Primum scribere, deinde vivere („zuerst schreiben, dann leben“) schreibt er sich auf ein Memo über das kleine Schreibtischmöbel, das sich perfekt für Lyrik eignet, aber auch groß genug für sein Jahrhundertwerk ist. Mit bewundernswerter Gleichgültigkeit und Akribie nimmt er die restlichen Hausbewohner:innen wahr. Das Wichtigste ist ihm dabei, dass die Namen zu ihren Träger:innen passen. Mit der Privatbeamtin Frau Faber, deren seltsam eingerichtetes Zimmer er als Untermieter bewohnt, ist er sehr zufrieden, der Name Putz für das selbstverständlich neugierige Hausmeisterehepaar passt ihm auch gut ins Konzept. Die Schnüffelei der Hausmeisterin Anna Putz nimmt er ihr deswegen nicht krumm. Sein eigener Beziehungsstatus ist kompliziert: Er ist zwar verheiratet, hat aber gar keine richtige Ahnung davon, wo sich seine Frau jetzt eigentlich herumtreibt. Es interessiert ihn auch nicht, die Scheidung steht aber nicht ganz oben auf seiner Bucket List. Zuerst möchte er aber sein Mega-Werk vollenden, das den Namen Dicke Damen tragen soll. Er selbst zieht eher Männer vor, vor allem junge und schlanke. Gegen Frauen hat er aber auch nichts, vor allem dann nicht, wenn sie ihn in das Universum der lustvollen Schmerzen einführen. Handlung gibt es eigentlich recht wenig, der Held scheitert natürlich zum Schluss – aber nicht am großen Projekt. Er lässt sich bereitwillig mit etwas Zufall und viel Fantasie in Situationen dirigieren, die ihn reizen, an- und aufregen, aber natürlich zu nichts führen, da er an wenig mehr als an sich selbst denken kann.
Queeres Leben in den 1930ern
Es ist aber weniger die sparsame Entwicklung der Hauptfigur, die voller Sehnsucht an die Freiheit des Kriegsgefangenenlagers denkt, wo er das Schreiben für sich entdeckte und auch die körperliche Liebe zu Männern eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Rudolph J. Wojtas Roman lebt von den originellen und genauen Beschreibungen der Restaurants, Wohnungen, Straßen und inneren Befindlichkeiten der Personen. Wie in einem hübschen Setzkasten leben sie mit ihren fertig gestrickten Auffassungen in der Gegenwart und Rückblende nebeneinander her, lassen sich mehr oder weniger oft und freiwillig in die Karten schauen. Bisexualität wird hier ganz nebenbei und sehr treffend mit faschiertem Fleisch verglichen, „in dem Rind und Schwein ganz unterschiedlich, aber eben auch halb halb enthalten sein können“. Zeitgeschichtliches ragt wenig hinein in die Geschichte, das ist auch bei Doderers Tagebüchern so, der hier eher eine „Nabelschau“ betreibt, als von den Geschehnissen jener turbulenten Tage am Vorvorabend der Nazi-Hölle zu berichten. Dass homosexuelle Handlungen per Gesetz und Moral verboten sind, wird nicht direkt an- oder ausgesprochen. Komplizierte Dating-Logistik und das sofortige Verbrennen von pikanten Aufzeichnungen – von Zetteln, die geschrieben werden müssen, das Einzige, für das der Protagonist anscheinend tatsächlich brennt – weisen aber darauf hin, dass das private Leben der Wiener:innen einmal ein anderes gewesen ist.
Melancholie und Bedrohung
Der Roman Zerfall der Lage ist ein sehr amüsantes, ausgesprochen gut gestricktes kleines Werk, das mit sehr viel Hingabe Szenerien beschreibt, die trotz aller menschlichen Ignoranz und Gefühlskühle Wehmut aufkommen lassen. Die Hausgemeinschaft basiert zwar auf Klassenunterschieden, einzementierten oder fast angeborenen Vorurteilen und Spionage, trotzdem wird miteinander interagiert, die Blumen der Vermieterin gegossen, sich – in welcher Form auch immer – umeinander gekümmert. Dass dieses Kümmern keine zehn Jahre später ganz andere Formen annehmen wird, trübt den Lesegenuss nicht wirklich. Der Duft der Kaffeehäuser und Restaurants als soziale Treffpunkte zieht sich durch die Seiten. Nicht immer ein Ort der Freude, aber ein Ort, an dem Sehnsucht eine große Rolle spielt.
Rudolph J. Wojta ist ein hervorragender Erzähler, der juristisch-charmante Ton macht fast jedes Wort und seine oft ungewöhnliche Verwendung zu einem Erlebnis. Er macht auch Lust darauf, sich den originalen Doderer wieder einmal vorzunehmen und ohne Absicht und Ehrgeiz ganz frei durchzublättern. Generell gebärdet sich Zerfall der Lage ein wenig wie eine innere Meditation. Man lässt die Szenerien kommen und wieder gehen, muss nicht bewerten, fühlt sich einfach gut und bestens unterhalten im Moment. Und es sind die feinen, originellen und absurden Momente, die dieses wunderbare Buch ausmachen.