Nationale Mythen und die dunklen Seiten des Patriotismus in der Neuen Galerie

Ausstellung: Horror Patriae, steirischer herbst’ 24

Text: Lydia Bißmann - 20.09.2024

Rubrik: Kunst
Ausstellungsansicht „Horror Patriae“, Michéle Pagel "White Trash bag #1 and #2" (2023), links

Ausstellungsansicht „Horror Patriae“, Michéle Pagel "White Trash bag #1 and #2" (2023), links. (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek)

Mit einer Ausstellung in den Räumen der Neuen Galerie Graz zollt der steirische herbst '24 ausführlich und großzügig dem heurigen Festivalmotto „Horror Patriae“ Respekt.

Ekaterina Degot, David Riff, Gábor Thury und Pieternel Vermoortel, unterstützt von Beatrice Forchini und Tobias Ihl, stellen ausgewählten Exponaten aus der Sammlung der Neuen Galerie, aber auch aus anderen Häusern des Universalmuseums Joanneum, Auftragswerke zeitgenössischer, internationaler und regional ansässiger Künstler:innen gegenüber. Mit Altem und Neuem nähert man sich dem Begriff Heimat und der Institution Museum an und erzeugt so Spannung und viel Stoff zum Nachdenken. Das „Herzstück“ des steirischen herbst '24 ist noch bis Mitte Februar 2025 zu sehen. Nur noch bis zum 12. Oktober gibt es das Vermittlungsangebot des Festivals.
steirischer herbst'24, Ausstellungsansicht „Horror Patriae“ in der Neuen Galerie Graz

steirischer herbst'24, Ausstellungsansicht „Horror Patriae“ in der Neuen Galerie Graz. (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek)

Der Erfindung Nationalstaat auf der Spur

Gegründet wurde das heutige Universalmuseum Joanneum im Jahr 1811 als Museum der Aufklärung mit einer Bildungsfunktion. Es stand im Zentrum dessen, was der Historiker Benedict Anderson eine „vorgestellte Gemeinschaft“ nennt. Wie Anderson in seinem einflussreichen Buch Die Erfindung der Nation (1983) argumentiert, sind alle Nationalstaaten, wie wir sie kennen, Erfindungen, Werke der kollektiven Vorstellungskraft des Bildungsbürgertums. Museen, ebenso wie Romane, Zeitungen und Theaterstücke, sind Orte dieser Konstruktionsarbeiten. In acht Räumen und Kapiteln arbeitet sich die Ausstellung an gewohnten Begrifflichkeiten ab und hinterfragt sie ohne erhobenen Zeigefinger und überflüssige Moral. Das ist schon an den Namen der Räume zu erkennen, die fast ein wenig lyrisch klingen und viel Interpretationsspielraum offenlassen. Sie tragen Namen wie „Abteilung für gemäßigten Größenwahn“, „Galerie der zaghaften Moderne“, „Direktorium der Nationen“, „Station der wilden Fantasien“ oder „Kammer der unwahrscheinlichen Patrioten“.

Ekaterina Degot, director and chief curator steirischer herbst, die curators David Riff andPieternel Vermoortel and the artists of the exhibition "Horror Patriae"

Ekaterina Degot, director and chief curator steirischer herbst, die curators David Riff andPieternel Vermoortel and the artists of the exhibition "Horror Patriae". (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek)

Brot, Flaggen und Tattoos als Trigger

Valie Exports Fotos von an Brotlaibe gefesselten Männern (Homometer, 1973) hängen hier neben Abbildungen eines Stiertreiben-Happenings in Donnersbach aus den 1950er-Jahren, aufgenommen von Karl Haidling, einem Volkskundler mit problematischer Vergangenheit. Pablo Bronstein fertigte ein überdimensionales Modell eines unendlichen Gebäudes mit den Zügen bekannter Grazer Architektur an, das wie eine Torte aussieht und von der man nur allzu gerne kosten würde. Die unselige Völkertafel, die fein säuberlich alle Vorurteile, die man im 18. Jahrhundert gegenüber zehn Europäern hatte, in einer Tabelle auflistet, findet sich hier, aber auch eine Stofffläche, die aus zusammengenähten Flaggen der „Failed Nations“ besteht. Die Arbeit von Peter Friedl folgt dem Failed (früher Fragile) States Index, der jedes Jahr erhoben wird und Nationen nach ihren wirtschaftlichen, sozialen und politisch-militärischen Faktoren bewertet. Looser-Länder eben, die nicht von anderen anerkannt werden (können) und sonst noch alle Arten von Problemen haben. Mittendrin in der Flaggenlandschaft finden sich aber auch die österreichische und die amerikanische Fahne. Ein Horror-Video von Alina Kleytmann, The Place To See Before You Die (2024), zeigt eine als Faun verkleidete Frau, die ein Abbruchhaus mit dem Wording eines Wellness-Resorts anpreist. Das Haus ist das Geburtshaus der Künstlerin im ukrainischen Charkiw, die minimalistische Möblierung und der großzügige Fernblick sind russischen Angriffen geschuldet. Das geht unter die Haut, genauso wie die Fotos von Roee Rosen, der in seiner Arbeit The Gaza War aufgemalte Tätowierungen zeigt, die etwa Kabelbinder und abgetrennte Gliedmaßen darstellen. Heimat ist die Bedingung für Krieg: Er braucht sie, formt sie und gestaltet sie auch um, was nicht immer in Vernichtung enden muss, sondern auch seltsame und hinterfragenswerte Veränderungen bedeuten kann.

Horror Patriae ist vielleicht ein plakativer Titel, aber wer einfache Erklärungen oder Abkürzungen sucht, wird sich hier schwertun. Überhaupt sollte man sich sehr, sehr viel Zeit nehmen, um die genreübergreifende Schau, die den Bereich der bildenden Kunst mehr als nur ausreizt, zu besuchen.

Auftragswerke von Sarnath Banerjee, Pablo Bronstein, Madison Bycroft, Ieva Epnere, Assaf Gruber, Jan Peter Hammer, Thomas Hörl, Jakub Jansa, Nikolay Karabinovych, Alina Kleytman, Ingo Niermann und Erik Niedling, Roee Rosen, Marko Tadić, Helene Thümmel und Piotr Urbaniec nach.

Künstler:innen aus der Sammlung der Neuen Galerie Graz: AES+F, András Felvidéki, Wolf Gössler, Hans Werner Poschauko, Drago Julius Prelog, Paolo Tessari, Norbert Trummer, Franco Vaccari und weitere

Neue Galerie Graz

Joanneumsviertel,
8010 Graz
Öffnungszeiten: Mo. - So.: 10h -18h

 
Roee Rosen, "The Gaza War Tattoos" (2024), Fotografie

Roee Rosen, "The Gaza War Tattoos" (2024), Fotografie. (Credit: mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.)

Alina Kleytman, "The Place to See Before You Die" (2024), Videostill

Alina Kleytman, "The Place to See Before You Die" (2024), Videostill. (Credit: mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)