Design und Gesellschaft
10 Thesen zum Society-Centered Design
Text: Karl Stocker - 09.07.2023
Rubrik: Design
1. Eine Welt im Wandel
Unsere Welt befindet sich inmitten eines ungeheuren Wandels. Vor allem junge Menschen sind sich der negativen Auswirkungen unseres aktuellen Wirtschaftsmodells bewusst und diskutieren neue Zugänge zur Welt: Kritisiert wird die Ungleichheit zwischen der 1., 2. und 3. Welt, man fordert Maßnahmen gegen die zunehmende Zerstörung unserer Umwelt, man engagiert sich in sozialen Initiativen und arbeitet daran, die Welt im eigenen Umfeld zu verbessern.
2. Hohe gesellschaftliche Verantwortung von Design
Design ist seit 150 Jahren an den Entwicklungen der industriellen Gesellschaften mit ihren Auswirkungen für Mensch und Umwelt beteiligt. Daraus ergibt sich für die Designer:innen eine hohe Verantwortung, an der Bewältigung der uns heute und zukünftig betreffenden Probleme mit gestalterischen Mitteln mit zu arbeiten.
3. Benutzer:innen orientiertes Design
Bis vor circa 30 Jahren interessierte im Designprozess weder Mensch noch Umwelt, es ging um den finanziellen Unternehmenserfolg und die Gewinnmaximierung. Ab der Jahrtausendwende allerdings setzte sich immer mehr durch, dass auch die menschlichen Bedürfnisse, die Fähigkeiten und Verhaltensweisen der einzelnen Nutzer:innen im Designprozess Berücksichtigung finden sollten. Dieses User-Centered Design wurde damit „das“ neue Credo der Design Szene.
4. Individuelle Erfolge versus langfristige Folgen
Aber in einer globalisierten, vernetzten Welt kann etwas, das Einzelnen nutzt, vielen anderen – und auch unserem Planeten – schaden. Die negativen Konsequenzen dieser Gestaltungsmethode, die sich zu sehr auf das Individuelle konzentriert und damit gleichzeitig die politische und gesellschaftliche Dimension von Design ignoriert, sind nicht mehr zu übersehen.
5. Ein neues Paradigma?
Schon 1971 hat Victor Papanek in seinem Buch „Design for the Real World“ den Trend kritisiert, dass „immer nutzlosere, potenziell schädliche, verantwortungslose und aus ökologischer Sicht bedenkliche Produkte als Massenkonsumartikel produziert werden“. Er sprach sich entschieden gegen die Verantwortungslosigkeit im Design aus und entwickelte ein Radio für die Dritte Welt basierend auf einer alten Blechdose.
6. Society-Centered Design
50 Jahre später erfahren Papaneks Ansätze nun immer mehr Zustimmung. Viele Designer:nnen geben sich nicht mehr damit zufrieden, gut betuchte Kund:nnen in ihrer Suche nach ästhetischer Abgrenzung zu bedienen, sondern beginnen ihre Rolle als Designer:innen im Kontext der immer größer werdenden Kluft zwischen Reich und Arm sowie der Umweltproblematik zu hinterfragen. Sie engagieren sich in sozialen Bewegungen, unterstützen Basisinitiativen und versuchen ganz einfach und unaufgeregt einen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten.
7. Society-Centered Design: Das Ganze im Blick
Designer:innen müssen sich bewusst sein, dass sie Ökosysteme gestalten und nicht nur einzelne Anwendungen. Sie müssen über die einzelnen Nutzer:innen und den unmittelbaren Geschäftserfolg hinausblicken und die beste Lösung für Mensch, Gesellschaft und Natur entwickeln. Genau dieses Designverständnis bringt der Terminus „Society-Centered Design“ zum Ausdruck. Er schließt nicht nur Nutzer:innen und Business mit ein, sondern auch Gesellschaft und Umwelt – und deren vielfältige Interdependenzen.
8. Society-Centered Design: Die bessere Business-Strategie
Auch Unternehmen spüren, dass es Zeit ist für einen neuen Ansatz in der Produktentwicklung. Konsument:innen sind heute aufgeklärter und kritischer, sie schauen genau hin, wie Produkte hergestellt und Mitarbeitende behandelt werden oder wie sich Unternehmen und Marken zu gesellschaftlichen Fragen positionieren. Menschen wollen einen Beitrag leisten zum Gemeinwohl und zum Umweltschutz. Entsprechend sind Unternehmen – und Designer:innen – gefragt, ihnen Produkte und Services zu bieten, die mit diesem Bedürfnis im Einklang stehen. Daraus folgt: Society-Centered Design ist keine idealistische Ideologie, sondern Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, die heute Menschen erreichen (und Gewinn machen) wollen.
9. Society-Centered Design: Ein neues Mindset
Um im Sinne von Society-Centered Design zu gestalten, braucht es ein neues Mindset sowie entsprechende Strategien und erweiterte Methoden. Wichtig wäre auch die Bedürfnisse nichtmenschlicher Stakeholder – also Tiere und Umwelt – in den Designprozess zu integrieren. Dafür braucht es Wissen und Gestaltungstechniken aus dem Human-Centered Design und Usability ebenso wie aus Ökologie, Umweltwissenschaften Soziologie und Philosophie.
10. Zukunftsaufgabe für das Design
Vorrangig sollten die Designer:innen das ganzheitliche Denken verinnerlichen, in die tägliche Arbeit einfließen lassen und Unternehmen und Auftrageber:innen davon überzeugen, dass dieses unbedingt notwendig ist. Society-Centered Design ist keine idealistische Blase, sondern verschafft Unternehmen echte Wettbewerbs-vorteile. Der Schlüssel zum Erfolg ist das Kommunizieren und Entwickeln eines neues Designzugangs. Und weiter gedacht: Alles hängt von Zusammenarbeit ab – zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Designer:innen, Aktivist:innen und Menschen überhaupt – mit dem Ziel Lösungen zu finden und möglichst rasch eine neue Idee von Design anzudenken und umzusetzen.
Karl Stocker
Historiker und Kulturwissenschaftler Karl Stocker ist ein international renommierter Referent, Autor, Kurator und Berater mit über 30 Jahren Erfahrung in den Bereichen Kultur, Design, Medien und Bildung. In seinen Publikationen und Forschungsschwerpunkten finden sich neben dem Fokus auf Design und Ausstellungsdesign auch Arbeiten zu kulturtheoretischen und gesellschaftsrelevanten Fragestellungen wie Sozialgeschichte und Jugendkultur. Seit 1984 unterrichtete Karl Stocker als Lehrbeauftragter, Professor und Gastprofessor an Universitäten im In- und Ausland, wie etwa der Universität der Künste Berlin, dem École Supérieure d’Art et Design Orléans, der Universitat Politècnica de València oder dem Hubei Institute of Fine Arts in Wuhan. Als Leiter der Studiengänge „Informationsdesign“ und „Ausstellungsdesign“ sowie langjähriger Leiter des „Instituts für Design und Kommunikation“ hat er das Hochschulmanagement an der FH Joanneum in Graz mitgeprägt. Seit über 15 Jahren ist Stocker zusätzlich Gutachter zur Qualitätssicherung unterschiedlicher Studiengänge und ist als Coach und Berater tätig.